19.08.2022 (ML)

ich sitze im zug und der wird zu einer kapsel, ich durchfahre meine inneren landschaften, draußen greifen tausend krallen nach mir. ich werde ausgepuckt, irgendwo in der mitte des fremden lebens und kaufe an der ecke einen strauß bunter blüten. ich frage mich, ob man den tod riechen kann. ich rieche ihn nicht, ich rieche nur verzweiflung und ratlosigkeit, die in übergriffige fürsorge kippt.

dann am grab gieße ich frisches wasser über die granitplatte, stelle blumen auf und zünde zwei kerzen an. ich sitze all den namen gegenüber, von denen ich nur wenige gekannt habe. verschwommene umrisse zweier gestalten und ein paar übriggebliebene sätze. wir sitzen uns lange gegenüber, mit dem wissen um den natürlichen lauf des lebens. als ich später stunden lang durch den jüdischen friedhof nebenan spaziere, rollen mir unaufhörlich tränen übers gesicht und ich versuche all die namen deutlich auszusprechen, damit sie hallen, haften bleiben in dieser konzentrierter schuld des schweigenden zuschauens von damals, von der wir auch abstammen.