spätnachmittags. wir sitzen in einem verdunkelten raum, vor uns die kleine bühne, draußen tobt sich der frühling aus und lea schneider liest aus ihrem essay über die scham. über sie scham sprechen, sagt sie.
scham ist eins der dominanten gefühle in meinem gefühlschaos seit nun über einem monat. scham in inniger umarmung mit schlechtem gewissen, ein fatales paar. ich schäme mich andauernd dafür, dass es mir zu gut geht, dass ich morgens joggen gehe, wenn der park erwacht, dass ich meinen kaffee trinke mit schaum und die sonne blendet mich dabei, dass ich hier sitze und schreibe, dass ich lese, spazieren gehe mit freunden, dass ich zeit habe zum vertun, dass ich texten lausche, in der wanne liege, wein trinke, betrunken fahrrad fahre durch die ruhige nacht, dass ich sex habe und wäsche wasche, dass ich gedichte lese, die musik laut aufdrehe und tanze, einfach so. und ich weiß, dass es nichts bringt. dass es schon immer so war und bleibt. dass leute hungern, sterben, todesängste ausstehen, während woanders …
die scham bleibt, auch wenn ich sie direkt anspreche. weil ich weiß, dass meine sorgen letztlich lächerlich sind, egal, wie sehr sie mich plagen. auf dem tisch steht eine schale voller frischer orangen, ich beiße hinein, der saft tropft mir vom kinn herunter. und wenn wir uns später im park treffen, holen wir uns einen kaffee, trinken ihn auf der brücke sitzend und lassen unsere beine baumeln. und es ist wunderschön. die scham kommt später um die ecke, zwinkert mir zu, in der hand hält sie einen aperol spritz und fragt ganz unverschämt, ob ich auch einen wolle.