Du liest ein Buch, während die Räder unter dir über die Schienen rollen. Und die dir bekannten Landschaften bemerkst du kaum. Ja, du verpasst sogar die Kathedrale von Esztergom, die vom Grau der Landschaft da draußen verschluckt wird. Und ein, zwei Stunden später wirst du am Westbahnhof abgeholt und ihr fahrt mit der Tram in den Süden der Stadt. Und ihr nutzt die Zeit für Gespräche, die ihr seit drei Jahren nicht geführt habt. Und die drei Neonazis, die sich einen halben Meter neben euch an den Schlaufen festhalten, die von der Decke der Tram baumeln, du schätzt sie auf achtzehn oder neunzehn Jahre, sie tragen Bomberjacken, noname-Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, einen Flaum auf der Oberlippe, denn sie sind spät dran mit ihrem jeweiligen Bartwuchs, und einer hat die Karte von Großungarn auf den Hals tätowiert, ja, diese drei Jungs, sie zaubern dir ein Lächeln aufs Gesicht, weil sie so unglaublich lächerlich wirken. Und sie befördern eine gefühlte Sekunde später den Hass, der sich seit den 90er Jahren irgendwo in dir verankert hat, an die Oberfläche, sodass du Gänsehaut bekommst.
Und du staunst, dass es wirklich nur einen Knopfdruck braucht, diesem Hass einen Boost zu verpassen. Also schaust du nach draußen, verlagerst das Gewicht von einem auf das andere Bein, und denkst, vielleicht muss das so sein. Vielleicht braucht es diese Verkörperung von Klischees und Realitäten, die du sonst einfach so verdrängen kannst, weil dein derzeitiger Alltag einfach in einer anderen Blase stattfindet. Morgen ist der 23. Oktober, der Nationalfeiertag des Landes. Und für dich ist es der siebte 23. Oktober, den du in einem Zug in diesem Land verbringst. Das ist wichtig, denkst du, doch es hat keinerlei Bedeutung.
Und während ihr später Pizza esst und euch durch verschiedene Sorten selbstgebrauten Bieres trinkt, verfliegt die Zeit, wie manche Menschen so sagen, und ihr glaubt, ihr habt gerade erst angefangen zu erzählen. Doch ihr seid euch sicher, ihr wisst, beim nächsten Wiedersehen genau dort weiterzumachen, wo ihr gerade aufhört. Und du bist sehr dankbar dafür und für die gemeinsamen Stunden. Und du steigst in die Metro und fährst zum Ostbahnhof.
Weiter. In den Osten zu rollen.